Marie ist am Ende. Sie kann einfach nicht mehr. Wie konnte sie nur daran glauben, einen Marathon bis zum Ende durchzuhalten? Dabei ist es nicht mehr weit bis zum Ziel. Sie kann es in der Entfernung sogar schon erkennen. Aber da ist keine Kraft mehr in den Beinen, nicht einmal für einen einzigen Schritt. Sie wollte ihren Kindern beweisen, dass alles möglich ist und ihnen zeigen, dass es wichtig ist, an einem Ziel festzuhalten. Sie wollten ihren Kindern Hoffnung schenken, nach all den Turbulenzen der letzten Jahre.
Die letzten Monate waren geprägt von dem Entschluss, etwas zu verändern. Einen Schritt nach dem anderen in die richtige Richtung zu gehen. Sie waren geprägt von Durchhaltevermögen, von Höhen und Tiefen und von vielen Tränen. Dann von dem Gefühl, es zu schaffen. Der Marathon sollte die Krönung sein.
Und jetzt war es Zeit, sich einzugestehen, dass man doch nicht alles erreichen kann. ENT- täuschung. Doch dann war sie plötzlich da, die Stimme neben ihr, die ihr Zuspruch ins Ohr flüsterte und die starke Hand, die sich unter ihren linken Oberarm schob und sie stützte. Kurz darauf auch auf der rechten Seite ein kräftiger Arm. Es fühlte sich an wie getragen werden. Weitermachen wurde wieder zur Möglichkeit. Und da waren sie wieder, die Tränen, diesmal vor Freude und vor Dankbarkeit.
Der Polizist und der Sanitäter am Straßenrand hatten erkannt, dass es bei Marie um mehr ging, als um das Beenden dieses Laufs. Später dazu befragt, sagten beide, dass es keine Zeit gab um zu überlegen, handeln war gefragt. Die drei hatten sich vorher noch nie gesehen, aber in diesem Moment waren sie eine Einheit. Ein Team.
Gemeinsam überschritten sie die Ziellinie. Die anderen LäuferInnen waren schon lange da und trotzdem fühlte es sich an wie ein Sieg. Wie ein riesengroßer Triumph. Nicht nur für Marie, auch für alle, die die Szene beobachten durften und daran erinnert wurden, was es bedeutet, Mensch zu sein.
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Die Geschichte von Marie ist eine wahre Geschichte. Sie hat sich in Amerika zugetragen, also tausende Kilometer von uns entfernt und dennoch hat sie es geschafft, bis zu mir durchzudringen und obwohl es schon Jahre her ist, dass ich den Bericht darüber gesehen habe, begleitet sie mich noch immer, weil sie mich damals sehr bewegt hat.
Positive Geschichten haben eine unglaubliche Kraft. Sie berühren das tiefe Wissen in uns, so wie wir sind, richtig zu sein. Sie berühren unser Menschsein. Es ist nur leider so, dass wir es ihnen nicht leicht machen, an die Oberfläche zu dringen. Das liegt aber an unserer Konditionierung, nicht an dem Umstand, dass es sie nicht gibt. Denn sobald man positiven Geschichten Aufmerksamkeit schenkt, wird man von ihrer Fülle beinahe überrollt. Es ist, als würde ein Damm brechen und man erkennt voller Staunen, dass sie schon immer da waren, nur das Sichtfeld war verstellt.
Warum tun wir Menschen uns so schwer, die positive Seite unserer Welt zu sehen? Angeblich braucht es nur eine negative Geschichte, um uns sofort fünf positive vergessen zu lassen. Ich habe dazu eine sehr spannende Erklärung gefunden, die bis in eine Zeit zurückreicht, in der wir noch in Höhlen wohnten. Sie lautet in etwa so: Man stelle sich vor, es wäre für Herrn Höhlenmensch notwendig geworden, aus irgendeinem Grund seinen Unterschlupf zu verlassen. Er hat also wacker den Schritt nach draußen gewagt und vor seiner Wohnstätte haben sich nun zwei Szenarien aufgetan. Auf der einen Seite ein wunderschöner Sonnenaufgang, auf der anderen Seite ein Säbelzahntiger, sichtlich auf der Suche nach einem, nicht vegetarischen, Frühstück.
Die Entscheidung, sich vorerst nicht stressen zu lassen, die Yogamatte auszurollen und in Ruhe den Sonnenaufgang zu genießen, wäre, aus Sicht des hungrigen Säbelzahns, eine vortreffliche gewesen. Aus Sicht des Herrn Höhlenmensch, dessen dringliches Ziel es war, die Welt mit seinen Urururururenkeln zu beglücken, jedoch eher eine aus der Kategorie „schlechter geht nicht“. Auf Gefahr konditioniert zu sein, war also überlebensnotwendig. Morgenrot hin oder her, es war wichtig, den Tiger im Auge zu behalten. Ein Instinkt, der sich quasi in unser Reptiliengehirn, den ältesten Teil unseres Gehirns, eingebrannt hat und der auch nicht vorhat, freiwillig sein Refugium zu verlassen.
Nun könnte man natürlich einwenden, dass wir heutzutage beim Verlassen unserer Häuser ja nicht unbedingt damit rechnen müssen, dass sich, während der Schlüssel noch im Schloss unserer Sicherheitstür steckt, hinterhältig von Links eine gestreifte Großkatze auf uns stürzt. Sich nach wie vor auf Gefahr und die Dinge, die nicht gut laufen, zu konzentrieren, wäre daher sinnlos.
Ein sehr gutes Argument, nur ist es so, dass Instinkte vom Typ her eher auf der rechthaberischen Seite angesiedelt und gelinde gesagt, schwer davon zu überzeugen sind, dass sich die Zeiten geändert haben. Unser Fokus liegt daher weiter auf dem, was nicht funktioniert, auf dem, was für unser Leben Gefahr bedeuten könnte. Und es ist natürlich auch so, dass es in einem gewissen Rahmen auch wichtig ist, auf der Hut zu sein, zum Beispiel vor SMS schreibenden AutomobilbenutzerInnen, nur so nebenbei erwähnt. Nur wie so oft, geht es um die Verhältnismäßigkeit.
Die gute Nachricht, es ist möglich, unser Gehirn zu trainieren, also quasi den Fokus auf den Sonnenaufgang umzuschwenken, der in diesem Fall für das steht, was gut läuft, was Freude macht, was uns verbindet. Und es ist nicht nur möglich, es ist auch dringend notwendig, wenn wir nicht im Sumpf negativer Schlagzeilen versinken wollen.
Dazu braucht es einen Schritt zurück. Ein kurzes Innehalten. Ein Hinschauen, wo ich gerade stehe und wo ich hin will. Und es braucht Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung. Aber vorerst braucht es die bewusste Entscheidung, die andere Seite der Medaille sehen zu wollen. Das Positive. Die unzähligen Menschen, die sich schon jetzt für unsere Umwelt, für Menschlichkeit, für Tierschutz, für Nachhaltigkeit, für unser Wohlbefinden einsetzen. Die uns zum Lachen bringen und uns mit ihrer Kunst erfreuen, deren Lieder uns den Tag verschönern, die sich auf die verschiedenste Art und Weise in diese Welt einbringen, mit dem Wunsch, sie zu einem lebenswerten Ort für uns alle zu machen.
Dankbarkeit zu praktizieren, ist ein wunderbares Ritual, um das Blickfeld auszudehnen. Ich kann zum Beispiel täglich einen Satz in ein Büchlein schreiben, wofür ich heute dankbar bin. Und dabei geht es nicht darum, dass erst etwas Gutes passieren muss, wofür ich dann dankbar sein kann. Es geht darum, den Blick auf das zu richten, wofür ich schon jetzt dankbar bin. Zum Beispiel dafür, dass ich ein- und ausatmen kann. Oder dafür, dass meine Finger diese Zeilen tippen können. Dankbarkeit kann zu so etwas wie einer Lebenshaltung werden.
Warum das alles? Weil uns Dankbarkeit wieder an die Fülle des Lebens anschließt. Weil uns die Auseinandersetzung mit anderen Menschen, der Natur, mit anderen Lebewesen, wieder zu uns selbst zurückführt. Weil Begegnung auf Herzensebene so, so gut tut und weil wir so Selbstheilungskräfte freisetzen und unser Immunsystem stärken können. Weil es so gut tut, sich über positive Geschichten auszutauschen und den Fokus auf das Machbare zu legen. Weil wir beginnen zu spüren, dass wir uns auch selbst in diese Welt einbringen können, auch wenn wir wenig Zeit haben, weil schon ein Lächeln Berge versetzen kann. Weil wir beginnen, zu spüren, dass wir alle miteinander verbunden sind und dass es um unser aller Leben geht. Weil…. Ich denke, du weißt was ich sagen will.
Text: Silvia Mathilde Franz