Unser neuestes Interview beschäftigt sich mit einem Thema, das auf den ersten Blick nicht unbedingt für eine Plattform geeignet zu sein scheint, die sich positives.at nennt. Cyber-Mobbing. Darunter versteht man das absichtliche Beleidigen, Bedrohen, Bloßstellen oder Belästigen anderer im Internet und über Smartphones, über einen längeren Zeitraum hinweg.
Also ein wirklich heftiges Thema. Ein Thema, das man gerne verdrängen, nicht wahrhaben und über das man schon gar nicht sprechen möchte. Das Vertrackte ist nur, dass es genau das ist, was Mobbing oder auch andere Formen von Diskriminierung, so stark werden lässt.
Gibt es also auch noch andere Wege? Ich denke schon. Ich möchte euch hier schildern, warum ich sogar glaube, dass es gerade diese schwierigen Themen sind, die uns wieder in unsere Lebensfreude bringen können, auch wenn das vorerst einmal vollkommen absurd klingt. Wobei es natürlich nicht die Themen per se sind, die uns wieder in unsere Kraft bringen, sondern die Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen. Hier meine Gedanken dazu:
Ich glaube, ich liege nicht falsch, wenn ich behaupte, dass es sich für die meisten von uns im ersten Moment leichter anfühlt, sich von Dingen, die uns zu überfordern scheinen, abzuwenden und sie zu ignorieren. Zumindest mir geht es so. Doch ich komme immer mehr drauf, dass das ein Trugschluss ist.
Denn wer kennt sie nicht, diese nagende, mühsame, leise Stimme in sich, die da behauptet, dass dieses Unrecht, das da gerade in meinem Umfeld passiert, tatsächlich auch mich angeht. Die behauptet, dass jede scheinbar noch so kleine abwertende Handlung, jedes einzelne erniedrigende Wort, an jemand anderen gerichtet, auch mich betrifft, weil wir Menschen keine getrennten Wesen, sondern vielmehr alle miteinander verbunden sind.
Und geht es dir nicht auch so, dass du dir häufig wünscht, mutiger zu sein? Ich bin immer wieder schwer beeindruckt von Menschen, die nicht lange herumfackeln sondern einfach tun. Die bei schwierigen Themen nicht wegschauen, die Rückgrat beweisen, die bei Ausgrenzung und Ungerechtigkeit weder weghören noch wegschauen und schon gar nicht schweigen. Ich empfinde das als unglaublich inspirierend und nachahmenswert.
Umso mehr verwirrt mich häufig meine Reaktion auf solche Erfahrungen. Denn ein Teil in mir weiß ganz genau, dass er genau so unerschrocken durchs Leben gehen will, während mich ein anderer Teil fast panisch zurückhält. Diese Zerrissenheit mündet dann oft in einem Gefühl von lähmender Ohnmacht, Das heißt, ich tue nichts. Und dafür schäme ich mich dann.
Und Scham ist, laut Brene Brown, ihres Zeichens Verletzlichkeitsforscherin, Universitätsprofessorin und Bestsellerautorin, mächtig. Sie freut sich über jeden Tag, an dem wir glauben, handlungsunfähig zu sein und flüstert uns eifrig zu, wie gefährlich es wäre, sich einzumischen. Interessanterweise trifft Scham in der Regel nicht die AkteurInnen, also diejenigen, die andere ausgrenzen, mobben oder auf eine andere Art diskriminieren. Im Gegenteil, es sind die direkt oder indirekt davon Betroffenen, die oft tief in Scham versinken.
Das hat damit zu tun, dass jede Form von Ungerechtigkeit, die wir entweder selbst erfahren oder die Menschen in unserem Umfeld widerfährt, das Potenzial hat, alte Wunden in uns aufzureißen. Besonders das Gefühl, irgendwie nicht richtig zu sein, wird getriggert. Ein Gefühl, das uns meistens schon seit unserer Kindheit begleitet. Ein Gefühl, das wir unter keinen Umständen noch einmal fühlen wollten, weil es damals so, so weh getan hat. Ein Gefühl, das ausgelöst wurde durch Ablehnung, durch Kritik und durch Druck von Menschen in unserem Umfeld.
Vielleicht wurden wir sogar selbst gemobbt oder auf eine andere Art diskriminiert, vielleicht wurden wir einfach nicht in das begehrte Sportteam gewählt, wurden nicht zur Geburtstagsparty eingeladen oder es hat jemand gelacht, als wir im Pausenhof hingefallen sind. Die Kränkungen waren so vielfältig und jede einzelne hat Wunden hinterlassen. Als Kind waren wir diesen Erfahrungen emotional vollkommen ausgeliefert. Das hat uns dazu veranlasst, damit zu beginnen, einen Schutzwall um unser Herz herum zu bauen, der uns vor zukünftigen Verletzungen schützen sollte, getragen von der tiefen Überzeugung, dass wir es ganz einfach nicht mehr aushalten könnten, noch einmal verletzt zu werden. Und so wurde unser vermeintlicher Schutzwall von Jahr zu Jahr dicker.
Brené Brown kommt in ihren langjährigen Forschungen zum Thema Verletzlichkeit und Scham jedoch zu dem, auch für sie überraschenden, Ergebnis, dass Verletzlichkeit zwar das Epizentrum schwieriger Emotionen ist, sie ist aber auch der Geburtsort jeder positiven Emotion in unserem Leben, wie Liebe, Zugehörigkeitsgefühl, Freude und Empathie. Sogar unser Innovationspotenzial und unsere Kreativität hängen davon ab, ob wir es wagen, verletzlich zu sein.
Das heißt aber im Umkehrschluss, je mehr wir uns einbunkern und hinter unserem Schutzwall verharren, desto mehr schneiden wir uns auch von allen Gefühlen ab, die letztendlich das Leben ausmachen. Denn das Leben funktioniert leider nicht so, dass wir unsere Gefühle in gut und schlecht einteilen und nur die guten für uns beanspruchen können. Was also tun? Weiter auf Sparflamme leben, sich nicht wirklich spüren und dadurch ein vermeintlich sicheres Leben führen oder sich mutig in das Wagnis Herzöffnung stürzen?
Es ist eine Tatsache, dass in allen von uns so ein verletztes Kind wohnt. Es ist leider bis jetzt nur wenigen Menschen gelungen, mit ihm Freundschaft zu schließen. Vielmehr haben wir im Laufe der Zeit unsere Methoden entwickelt, um mit diesem ungeliebten Anteil in uns, mehr schlecht als recht, umzugehen.
Manche bringt die Angst vor Verletzung dazu, ihr Leben mit angezogener Handbremse zu leben und sich machtlos zu fühlen. Diese Menschen ziehen sich dann lieber zurück, halten ihre Meinung hinter dem Berg und versuchen krampfhaft, in der Masse nicht aufzufallen. Bei anderen ist die Angst davor, selbst verletzt zu werden, sogar so groß, dass sie versuchen, ihr zu entkommen, indem sie andere beleidigen, bedrohen, bloßstellen oder belästigen. Das gibt ihnen für einen Moment das Gefühl, richtig stark zu sein. Das Gefühl hält allerdings nur so lange an, bis sie wieder mit sich alleine sind.
Die Erfahrungen aus unserer Kindheit sind in unserem Unterbewusstsein tief eingraviert und uns ist oft gar nicht bewusst, wie mächtig sie sind, wie sehr sie unser Leben lenken. Das kann dazu führen, dass wir unser Leben nur halbherzig angehen. Wenn wir jedoch ein genussvolles, freies Leben leben wollen, mit allen Hochs und Tiefs, die zu so einer HeldInnenreise auf diesem Planeten dazugehören, sollten wir lernen, mit der Angst vor neuerlicher Verletzung, mit dem Gefühl, etwas nicht aushalten zu können, umzugehen. Wobei hier aushalten durchaus positiv gemeint ist. Nicht Augen zu und durch. Aushalten im Sinne von: uralte Ängste erkennen, die Angst spüren, annehmen, sie dann loslassen und endlich frei werden.
Auch wenn es vielleicht komisch klingt, aber das Aushalten von schwierigen Gefühlen erfordert richtig viel Mut und wird definitiv leichter, wenn wir uns zusammentun und gemeinsam üben. Einmal ist die eine, dann die andere Person mutiger. Wir sollten uns gegenseitig unterstützen im Gefühle fühlen, uns bekräftigen, uns liebevoll begleiten, gemeinsam jubeln, wenn wir einem Gefühleberg mutig in die Augen geschaut und ihn vielleicht sogar ein Stück weit überwunden haben. Wir sollten uns gegenseitig stärken, wenn wir es wagen, unsere Schutzhülle zu verlassen und mutig unsere Meinung sagen und vor allem sollten wir lernen, uns gegenseitig richtig zuzuhören und die Ängste unseres Gegenübers ernst zu nehmen. Es braucht nicht immer einen Rat. Nur zuhören kann so heilsam sein.
Brene Brown hat in ihrer Forschungsarbeit in Bezug auf Scham, die uns so oft zurückhält und uns nicht das tun oder sagen lässt, was sich eigentlich gerade richtig anfühlen würde, noch etwas Spannendes herausgefunden. Es gibt etwas, das unser Schamgefühl absolut nicht ausstehen kann und zwar, wenn wir über es sprechen.
Und zwar so, dass wir das Wort Scham auch tatsächlich benützen. Denn es macht einen Unterschied, ob ich mit jemanden spreche und sage, „stell dir vor, was mir passiert ist“ oder ob ich sage, „ich bin gerade in Scham gefangen, bitte hör mir zu“. Das ist deswegen so wichtig, weil Scham nicht überleben kann, wenn wir sie benennen. Sie lebt nämlich von drei Dingen: Geheimhaltung, Stillschweigen und Verurteilung. Bringen wir ihr Empathie entgegen, ist das für sie der sichere Tod.
Und Mobbing lebt geradezu von diesen drei Zutaten. Geheimhaltung, Stillschweigen und Verurteilung. Beginnen wir über etwas, das uns mit Scham oder Angst erfüllt, zu sprechen, sind wir in der Lage, das Ende unserer Geschichte selbst zu schreiben. Hüten wir das Geheimnis, dass wir Angst haben, wieder verletzt zu werden, wie einen Schatz, den niemand sehen darf, gebe ich den AkteurInnen Macht über mich und bleibe in meiner Geschichte gefangen.
Dass sich von Mobbing oder Diskriminierung jedweder Art direkt Betroffene sehr schwer tun, sich aus der Situation zu befreien, liegt auf der Hand. Zum Glück sind sie aber nicht alleine. Vielmehr spielt auch das Umfeld, wie Eltern, LehrerInnen, FreundInnen oder Vereine, die zum Thema Mobbing Hilfe anbieten, eine große Rolle.
Und dann gibt es noch die vermutlich stärkste Gruppe, die das größte Potenzial in sich trägt, eine Situation wie Mobbing, Cyber-Mobbing oder sonstige Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung, nachhaltig zu verändern. Die Masse. Das große WIR. Und dieses WIR ist nicht irgendein Konstrukt. Dieses WIR, das bin ich und das bist du. Wir ALLE bilden dieses WIR. Wir alle bilden die sogenannten sozialen Medien. Es sind UNSERE Meinungen, DEINE und MEINE, die dort abgebildet werden. DU und ICH, wir sind die sogenannte Gesellschaft. Es liegt an DIR und an MIR, wie wir diese gestalten wollen.
Es liegt an DIR und an MIR, ob und wie wir uns zu schwierigen Themen äußern. Jede einzelne unserer Entscheidungen, jede einzelne unserer Wortmeldungen, macht einen Unterschied. Entscheide ich mich FÜR Menschlichkeit, FÜR Menschenwürde, FÜR Dialog, FÜR Demokratie oder dagegen. Es ist also MEINE Haltung und DEINE Haltung, die Leben verändern kann.
Und hier schließt sich der Kreis, warum ein Thema wie Cyber-Mobbing definitiv auf eine Plattform wie positives.at gehört. Wir wollen damit aufzuzeigen, dass wir ganz und gar nicht machtlos sind. Im Gegenteil. Genau das sind die Themen, denen wir uns als Individuum, als Klassengemeinschaft, als ArbeitskollegInnen, als Gesellschaft, stellen müssen, wenn wir wieder in unsere Lebensfreude und in unsere Lebendigkeit kommen wollen. Wenn wir ein menschenwürdiges Leben führen wollen.
Das sind die Themen, die uns unglaublich viel Kraft geben, wenn wir uns ihrer gemeinsam annehmen. Sie mögen auf uns wirken wie ein unüberwindbares Bollwerk, das mit jedem Tag mächtiger zu werden scheint, doch sie lösen sich auf, wie eine Seifenblase im Wind, wenn wir ihnen die Kraft eines einzigen Wortes entgegenstellen. NEIN. NEIN, da mache ich nicht mehr mit. NEIN ich klicke nicht mehr auf eine Seite, die mich durch ein reißerisches Bild lockt. NEIN, ich leite keine Nachricht mehr weiter, die jemanden anderen diffamiert. NEIN ich lache nicht mehr über Videos, die einen anderen Menschen bloßstellen.
Denn Cyber-Mobbing lebt von uns allen. Von jedem einzelnen unbedachten Klick, den wir tätigen. Von jedem Drücken auf die „Senden“ Taste, obwohl wir wissen, dass der Inhalt, den wir gerade weiterleiten, einem anderen Menschen schadet. Es liegt an jedem und jeder einzelnen von uns, Cyber-Mobbing, Ausgrenzung und Diskriminierung jeder Art, die Existenzgrundlage zu entziehen.
Wir setzen in uns enorme Energieressourcen frei, wenn wir uns mutig aufrichten und diversen AkteurInnen sehr klar und bestimmt mitteilen, dass wir nicht mehr gewillt sind, nur zuzuschauen. Dass wir es nicht dulden, dass Menschen in unserem Umfeld, auf welche Art auch immer, verletzt werden. Dass wir nicht zusehen werden, wenn Menschen ausgeschlossen und erniedrigt werden. Dass wir vielmehr einen Weg des Miteinanders und des Brückenbauens einschlagen wollen, auf dem ALLE willkommen sind.
Ich für mich weiß, dass ich noch lange nicht da bin, wo ich gerne wäre. Es gibt noch immer viele Momente in meinem Leben, wo ich mich zurückhalte, wo ich lieber nichts sage oder tue, weil es unbequem wäre, weil es mir Angst macht, weil ich mich nicht stark genug fühle. Aber ich übe und übe und ich freue mich über jeden noch so kleinen Erfolg und über jede einzelne Situation, in der ich nicht still bin, wenn ich eine Ungerechtigkeit sehe.
Und die Erfahrung hat mich gelehrt, dass ich mich jedes Mal und zwar wirklich jedes Mal, wenn ich aus meiner Komfortzone heraustrete und für meine Werte, für das, woran ich glaube, einstehe, stärker, lebendiger, aufrechter und authentischer fühle. Und sie hat mir vor allem auch gezeigt, dass ich, sobald ich mich hinauswage, NIEMALS alleine bin. Die wirklich Mutigen haben mich immer mit offenen Armen empfangen.
Abschließend noch eine kleine Volksweisheit, die ich auf der Suche nach einem passenden Zitat gefunden habe: „Wenn du meinst, zu klein zu sein, um etwas zu bewegen, dann hattest du noch nie eine Mücke im Bett“. Tja, besser hätte man sie nicht beschreiben können, die Kraft die im vermeintlich Kleinen liegt. Wenn sich Mücken dann noch zu einem Schwarm zusammenschließen…
In diesem Sinne wünschen wir euch einen wunderbaren Frühling und legen euch das Interview mit Lukas Clara ans Herz. Er gehört auch zu denen, die nicht mehr wegschauen wollen. DANKE Lukas!!
Text: Silvia Mathilde Franz
Kontaktadresse: lukas.clara@gmail.com (Homepage ist im Aufbau)
Der Verein, in welchem er tätig ist: https://zeichen-gegen-mobbing.de/
Anlaufstellen in Österreich:
Rat auf Draht
www.andrea-taudt.at
Weitere Infos auf: https://www.klicksafe.de/themen/kommunizieren/cyber-mobbing/