Mit 107.000 km/h durchs All

107.000 km/h. Einhundertsiebentausend Kilometer pro Stunde. Das ist die Geschwindigkeit, mit der wir auf unserer wunderschönen Erde, ohne Sicherheitsgurt und ohne Bremsen, durchs Weltall rasen. 107.000 km/h. Auf einer runden Kugel. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, ohne dabei den Humor zu verlieren. Beim Versuch, sich das ernsthaft vorzustellen, möchte man sich gleich irgendwo festhalten. Wobei die Sinnhaftigkeit dieser Reaktion eher fragwürdig scheint.

Eine andere Möglichkeit zu reagieren, wäre, sich ob dieser faszinierenden Ungeheuerlichkeit entspannt zurückzulehnen, zu staunen, die Unbegreiflichkeit dieses Spektakels auf sich wirken zu lassen und in Demut zu versinken.

Denn ja, es gibt mit Sicherheit eine wissenschaftliche Erklärung dafür, wie und warum es möglich ist, dass wir nicht wie wild durch die Gegend geschleudert oder überhaupt von unserem Planeten abgeschüttelt werden. Nur wie hilft uns die weiter?

Wenn wir Menschen vor einer Situation stehen, die uns in ihrer Tragweite vollkommen überfordert, die unser Bedürfnis nach Sicherheit massiv angreift, ist es in der Regel unser erster Reflex, das was uns angreift, unter Kontrolle bringen zu wollen. Es, wenn möglich, in mathematische Formeln, statistische Berechnungen oder abschließende Erklärungen zu pressen. Das ist menschlich und durchaus nachvollziehbar.

Allerdings kostet Kontrolle nicht nur enorm viel Kraft, sie verursacht auch immense Schäden, übersieht immer Wesentliches und verstellt noch dazu die Sicht auf neue Perspektiven.

Könnte es sein, dass uns das Leben, mit diesem wilden Ritt durchs All, der in seiner Unkontrollierbarkeit nicht zu überbieten ist, ganz was anderes vermitteln will? Vielleicht geht es manchmal einfach darum, Dinge, so wie sie sind, anzunehmen? Mit ihnen leben zu lernen, die Unkontrollierbarkeit auszuhalten und dabei die Lebendigkeit, die Lebensfreude, die unser Menschsein ausmacht und eine unendliche Quelle der Kraft ist, nicht zu verlieren? Ist es möglich, dass wir nur daran erinnert werden sollen, wie kostbar unsere Lebenszeit ist? Jede Minute, jeder Tag. Wie wenig selbstverständlich?

Sollen wir vielleicht daran erinnert werden, den Blick wieder auf das Wesentliche zu richten? Auf Gemeinschaft, auf Lebensfreude, auf Freundschaft, auf achtsamen Umgang mit unserem Lebensumfeld, mit unserem Körper, auf das kindliche Staunen in uns?  

Vielleicht erfordert diese Zeit, dass wir mutig den Raum des Nichtwissens betreten, in dem das Alte nicht mehr gültig und das Neue noch nicht geboren ist, in dem sich vermeintliche Wahrheiten auf den Kopf stellen und hinterfragt werden wollen. Sich einzugestehen, nicht zu wissen wie es weitergeht, innezuhalten, durchzuatmen, schafft Raum für neue Handlungsmöglichkeiten. Bewusst einen Schritt zurückgehen. In Stille beobachten. Sonst nichts. Ohne zu urteilen, ohne zu verurteilen, ohne Schuldzuweisungen.  Anerkennen, wo wir stehen. Den Weg hinterfragen. Durchatmen. Neu orientieren. Nicht gleich zu wissen darf sein. In einer komplexen Welt wie der unseren, muss es sogar sein.  

Noch nie dagewesene Situationen brauchen Bescheidenheit und Verantwortliche – die wir letztendlich alle sind – die zugeben, dass sie auf vieles noch keine Antwort haben. Interessanterweise ist es genau das, was Sicherheit vermittelt und Vertrauen möglich macht. Das Vortäuschen von Antworten ist jedenfalls nicht hilfreich, so viel ist sicher.

Es braucht transparente Kommunikation und Offenheit, das Einbeziehen unterschiedlichster Wissensgebiete und das Ablegen jeglichen Anspruchs auf letztgültige Wahrheit. Nur so können gemeinsame Strategien entwickelt und der Tunnelblick zu einem weiten Sichtfeld ausgedehnt werden. Macht mit anderen zu teilen, um Hilfe zu bitten und zuzugeben, dass man es alleine nicht schafft, ist, erwiesenermaßen, eine der effektivsten Führungsmethoden. Das wundert mich nicht.

107.000 km/h. Acht Milliarden Menschen, auf ihrer gemeinsamen Mission durchs All. Was für ein Abenteuer! Diese Reise geht uns ALLE an. Gemeinsam tragen wir die Verantwortung für unser unglaublich ausgeklügeltes Raumschiff, für jedes mitreisende Lebewesen und dafür, wie wir unser Zusammenleben an Bord gestalten wollen.

Das ist übrigens etwas, das wir wirklich in der Hand haben. Das ist das Positive an dieser Geschichte. Es liegt nämlich ausschließlich an mir und an dir, ob wir ein Klima der Angst, der Kontrolle und der Arroganz schaffen, oder ob wir uns auf andere Fähigkeiten besinnen wollen. Auf unsere Fähigkeit zu lieben, auf unsere Fähigkeit kreative Lösungen zu finden, zusammenzuarbeiten, wirklich zuzuhören, die Ängste und Sorgen meines Gegenübers ernst zu nehmen, mitzufühlen, aufeinander zuzugehen, zu lachen, zu weinen, uns an der Hand zu nehmen, uns gegenseitig Mut zuzusprechen, uns zu helfen, kurz gesagt, auf unsere Fähigkeit, ein bewusster Mensch zu sein.

Text: Silvia Mathilde Franz, www.positives.at

„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren“ (Benjamin Franklin)

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